Ulrike Schupp in ZEIT, Beilage „Zukunft Medizin“. Bin ich zu dick? Insgesamt, für das Kleid oder für die Shorts? Nur wenige haben sich das noch nie in ihrem Leben gefragt. Mehr als ein Fünftel der Deutschen hat schon einmal versucht, durch Fasten oder durch eine Diät abzunehmen, sei es durch Low-Carb, Keto, Paleo, Magic Soup oder Detox. Die Liste der Möglichkeiten ist lang. 60 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben Übergewicht, ein Viertel davon ist bereits adipös, stark übergewichtig. Eurostat, dem statistischen Amt der EU zufolge, sind 60,7 Prozent der Männer und 46,5 Prozent der Frauen zu dick. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen bringen ebenfalls zu viel auf die Waage. Seit den 70er Jahren hat sich der Anteil stark übergewichtiger Menschen fast verdreifacht. Im Hinblick auf Adipositas gibt es kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern. 19,1 Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen sind betroffen.
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Übergewicht = Body-Mass-Index über 30?
„Übergewicht“ beginnt dabei mit einem Body-Mass-Index (BMI) größer 25 kg/m2. Als adipös oder „fettleibig“ gilt, wer auf einen Wert über 30 Kg/m2 kommt. Die Formel, bei der Gewicht durch Körpergröße2 geteilt wird, ist nicht unumstritten. Sie lässt die Gewichtsverteilung außer Acht, ebenso wie die Tatsache, dass Muskeln schwerer wiegen als Fett. Ein Leistungssportler wird oft einen hohen BMI haben. Eine schlanke Person kann so viel „verstecktes“, inneres Bauchfett mit sich herumtragen, dass sich das Risiko unter anderem für Herz-Kreislauf-Erkrankungen für sie erhöht. Fest steht, das Gewicht spielt für viele eine immense Rolle. Es bestimmt Selbstbewusstsein, die Top Ten der Neujahrsvorsätze und die Wahrnehmung anderer. Dem XXL-Report, einer Studie der DAK Gesundheit aus dem Jahr 2016 zufolge, fanden 71 Prozent der Befragten Menschen mit starkem Übergewicht unästhetisch. Die Mehrheit glaubte, sie hätten keine Disziplin beim Essen oder sei zu faul, um sich genug zu bewegen. Dabei liegen die Ursachen oft woanders, zum Beispiel beim genetisch bedingt fehlenden Sättigungsgefühl, einer unbehandelten Schilddrüsenunterfunktion, Testosteronmangel oder der Einnahme entzündungshemmender Medikamente. An den Vorurteilen gegenüber übergewichtigen Menschen hat sich bis heute wenig geändert, auch wenn es eine Bewegung gibt, die Bodyshaming anprangert, die zum Beispiel die amerikanische Künstlerin Lizzo nicht nur wegen ihrer Musik, sondern auch für ihr Engagement in Sachen Body Positivity feiert.
Adipositas anerkannt als chronische Erkrankung
Längst geht es nicht nur um das Verhandeln optischer Idealbilder. Menschen mit starkem Übergewicht werden vom Gesundheitssystem im Stich gelassen, kritisierte die Deutsche Adipositasgesellschaft (DAG) zum Auftakt des Adipositatskongresses 2022 in München. „Der menschliche Körper verteidigt sein Körpergewicht mit allen Kräften, so dass Abnehmen den allermeisten Menschen ohne professionelle Hilfe nicht gelingt,“ sagte Jens Aberle DAG Präsident und ärztlicher Leiter am Adipositas-Centrum am UKE, des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Anstatt ein erhöhtes Gewicht rechtzeitig zu behandeln, greife das Gesundheitssystem erst dann ein, wenn Begleiterkrankungen zu kurieren seien. Erwachsene mit Adipositas haben, der Deutschen Adipositasgesellschaft zufolge, eine niedrigere Lebenserwartung. Sie tragen ein höheres Risiko an Diabetes mellitus zu erkranken, an Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfall, Fettleber, verschiedenen Krebsformen, Schlaf Apnoe oder auch an Long Covid. Seit dem Jahr 2000 erkennt die WHO Adipositas als chronische Erkrankung mit einer „über das Normalmaß hinausgehenden Vermehrung der Körperfetts“ an. Erst zwanzig Jahre später zog der Deutsche Bundestag nach. Für Betroffene macht das einen gewaltigen Unterschied. Durch die Anerkennung können die Kosten für eine Adipositas Behandlung jetzt zumindest teilweise und öfter von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
Besteuerung von Süßigkeiten und zuckerhaltigen Getränken
Experten und Expertinnen warnten beim Adipositas Kongress 2022 vor einer Belastung des Gesundheitssystems durch eine „Adipositas -Epidemie“, die sich durch Covid-19 noch verschärft habe. Helfen sollen „Health in all Policies“, ein Zusammenspiel von Maßnahmen in verschiedenen Politikfeldern. Die WHO will dabei auf die Besteuerung von zuckerhaltigen Lebensmitteln setzen, während Obst und Gemüse subventioniert werden sollen. Gleichzeitig dürfe es weniger an Kinder gerichtete Werbung zum Beispiel für Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke geben. Prävention und Gesundheitsförderung sollen schon in Schule und Kindergarten stattfinden und der Zugang zu Adipositas-Therapien erleichtert werden. Dem „European Obesity Report“ der WHO zufolge sei allerdings bisher kein Staat in Europa auf einem guten Weg, um den Anstieg von Adipositas bis 2025 zu stoppen.
Adipositas richtig behandeln
Die Behandlung der chronischen Erkrankung ist immer auch abhängig von den Begleiterkrankungen und dem Grad der Adipositas. Betroffene sollen nicht nur Abnehmen, sondern auch ihr Gewicht halten und einen gesunden Lebensstil erlernen, damit das Risiko für Folgeerkrankungen sinkt. Die Basistherapie bei einem BMI von etwa 30kg/m2 setzt dementsprechend bei Ernährung, Bewegung und Verhalten an. Sie kann durch Apps auf dem Smartphone unterstützt werden. Die Kosten für diese sogenannten DiGas trägt die Krankenkasse. Schwinden die Kilos nicht wie gewünscht, kommen zusätzlich teure, meist selbst zu zahlende Medikamente zum Einsatz. Sie können das Sättigungsgefühl verstärken oder Hungergefühle dämpfen, haben aber häufig starke Nebenwirkungen. Erst ab einem BMI ab 35 kg/m2 gilt eine Magen-OP als sinnvoll. Meist nur, wenn es bereits schwerwiegende Begleiterkrankungen gibt. Die bariatrische Chirurgie kann zum einen das Magenvolumen verkleinern, zum Beispiel durch ein Magenband oder die Entfernung eines Teils des Magens. Zum anderen kann sie, etwa durch einen Magenbypass, dafür sorgen, dass es zu einer verzögerten Verdauung kommt. Abhängig von der Art des Eingriffs, kann die OP einen Gewichtsverlust von bis zu 35 Prozent bewirken. Immer ist allerdings eine lebenslange Nachsorge notwendig. Die Betroffenen müssen weiterhin nach Möglichkeit unterstützt durch eine Basistherapie auf Ernährung und Bewegung achten.
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