Frauen sind anders – Männer auch. Warum sich die Medizin bisher kaum darum gekümmert hat, wirkt inzwischen fast rätselhaft. Vor allem deshalb, weil die Folgen manchmal dramatisch sind. Herz-Kreislauferkrankungen sind ein prominentes Beispiel dafür. Nur 50 Prozent der betroffenen Frauen überleben ihren ersten Herzinfarkt. Bei den Männern sind es 70 Prozent. Beschwerden wie heftige Brustschmerzen und Atemnot gelten als eindeutiges Signal. Die diffuseren Symptome der Frauen Übelkeit, Schmerzen in Hals oder Kiefer, im Arm sowie in Brust und Rücken werden dagegen oft nicht als lebensbedrohlich erkannt. Herz-Patientinnen erhalten dann nicht die Behandlung, die sie bräuchten, um zu überleben.
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Regitz-Zagrosek: „Einige Risikofaktoren schlagen bei Frauen mehr ins Gewicht“
Doch nicht nur bei den Symptomen unterscheiden sich die Geschlechter. „Einige der Risikofaktoren schlagen bei Frauen mehr ins Gewicht als bei Männern,“ sagt Professorin Vera Regitz-Zagrosek. Die Kardiologin ist Direktorin des 2003 gegründeten, bundesweit einzigen Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Charité Berlin. Ist beispielsweise „Rauchen“ allein schon ein Risikofaktor, so wird dieser bei Frauen durch die Einnahme der Anti-Baby-Pille noch verstärkt. Alexandra Kautzky-Willer, der ersten Professorin für Gender Medizin in Österreich, zufolge erklärt sich die Blindheit für geschlechterspezifische Unterschiede aus der Medizingeschichte. “Wissenschaftliche Untersuchungen fanden früher primär am Mann statt, Prototyp männlich, weiß, mittleren Alters. Die Forschung hat Frauen ausgeschlossen“, kritisiert die Wissenschaftlerin gegenüber der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“. Teilweise aus aus gutem Grund. Vor allem bei Medikamententests sollten bei einer unbemerkten Schwangerschaft Auswirkungen auf das Kind verhindert werden. Angestoßen wurde die Diskussion um die „Frauengesundheit“ durch die Frauenbewegung. Feministinnen forderten in den siebziger Jahre Selbstbestimmung in Gesundheitsfragen und mehr Zugang zu medizinischen Berufen. Als Patientinnen waren Frauen sogar bei typisch weiblichen Themen wie Schwangerschaft oder Geburt, weitgehend auf männliche Ärzte angewiesen.
Gendermedizin erst seit den neunziger Jahren
Die Gendermedizin, die eine stärkere Berücksichtigung der Geschlechterzugehörigkeit in Forschung, Diagnose und Therapie fordert, etablierte sich in den Neunziger Jahren zunächst in den USA. Untersucht wurden nicht nur das Entstehen und der Verlauf von Krankheiten, sondern darüber hinaus das Gesundheitsverhalten der Geschlechter. 2001 wies das amerikanische Institute of Medicine darauf hin, dass „Volksleiden“ wie Rheuma, Osteoporose, Depression oder Herz-Kreislauf-Krankheiten bei Männern und Frauen unterschiedlich verlaufen. Dies werde in der medizinischen Lehre und Ausbildung nicht genügend berücksichtigt, kritisierten die Wissenschaftler. Inzwischen ist Gender Medizin ein eigenes Studienfach beispielsweise an der Medizinischen Universität Innsbruck, an der Charité School of Public Health in Berlin oder an der Semmelweis Universität in Budapest.
Gender Medizin gilt als „Querschnitt –Thema“, das alle Disziplinen betrifft und zugleich interdisziplinär verankert ist. Frauen unterscheiden sich nicht nur anatomisch vom anderen Geschlecht, sondern auch durch ihre Hormone, ihren Stoffwechsel, ihre Psyche und ihre Lebensbedingungen. Mittlerweile ist bekannt, dass Medikamente bei ihnen häufig eine andere Wirkung haben als bei Männern. Ihr Körper baut einige Wirkstoffe langsamer ab. Zugleich treten Nebenwirkungen öfter und stärker auf. In der Prävention und bei der medizinischen Versorgung müssen weibliche Lebensbedingungen wie Mutterschaft, Berufstätigkeit, Alter und wirtschaftliche Verhältnisse berücksichtigt werden. Mediziner lernen heute schon während ihrer Ausbildung, Geschlechterrollen zu hinterfragen.
Diagnose und Früherkennung von Erkrankungen oft abhängig vom Geschlecht
Einstellungen und Verhalten von Männern und Frauen im Hinblick auf den eigenen Körper prägen oft nicht nur den Verlauf, sondern wirken sich auch auf Diagnose und Früherkennung von Krankheiten aus. Wer als Mann gar nicht erst auf die Idee kommt, er könne an einer Depression leiden, lässt sich nicht von einem Facharzt untersuchen. Eine Frau, die davon ausgeht, dass ihre Östrogene sie vor einem Infarkt schützen, wird entsprechende Symptome in der Regel eher als Kreislaufschwäche oder Verspannung deuten. Grundsätzlich geht das „starke Geschlecht“ seltener zum Arzt. Männer kommen im Schnitt auf 2,5 Arztbesuche im Jahr, Frauen auf 3,4, Zahnarzttermine nicht mitgerechnet.
Doch der Ansatz der Gender Mediziner trägt bereits Früchte. Vor allem bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Bluthochdruck haben sich Prävention, Diagnose- und Therapieverfahren in den letzten Jahren verändert. Sensibilisiert für Geschlechterstereotypen, untersuchen Mediziner bei entsprechender Symptomatik heute auch männliche Patienten stärker im Hinblick auf Krankheiten, die bis vor kurzem fast ausschließlich Frauen zugeordnet wurden.
Geht es um Krebs, steht in Kampagnen und in der Vorsorge häufig das Thema „Brust“ im Vordergrund und damit die eher die krebskranke Frau. Was kaum jemand weiß – ein Prozent der jährlich 60.000 Brustkrebspatienten in Deutschland ist männlich. Mediziner rechnen mit einer deutlich höheren Dunkelziffer. Da die Diagnose wenig naheliegend ist, fallen Betroffene schnell durch das Raster.
Mehr Ärztinnen in der Humanmedizin
Die Frauengesundheitsforschung hat nicht zuletzt den Blick auf biologische Prozesse, verändert, die ausschließlich Frauen betreffen. Gab es in den 80er Jahren noch ein „klimakterisches Syndrom“, gelten die Wechseljahre heute nicht mehr als Krankheit. Beschwerden, die damit verbunden sein können, erscheinen schon in den Neunzigern weniger angsteinflößend. Untersuchungen der Medizin-Psychologin Beate Schultz-Zehden zufolge haben 67 Prozent der Frauen keine oder nur leichte Hitzewallungen, 84 Prozent keine oder leichte Herzbeschwerden und 60 Prozent keine oder leichte depressive Verstimmungen. Zudem liegt die medizinische Begleitung in den Wechseljahren oder auch bei einer Schwangerschaft immer häufiger in weiblicher Hand. Der Anteil berufstätiger Ärztinnen ist laut Bundesärztekammer von 33,6 Prozent im Jahr 1991 auf 45 Prozent in 2011 gestiegen. Zwei Drittel der Studienanfänger in der Humanmedizin sind sind weiblich. Sie bringen häufig ein noch stärkeres Interesse an der jungen Disziplin der Gender Medizin mit als ihre männlichen Kollegen.
Zuerst erschienen in „Frauengesundheit“, Beilage ZEIT 2013